Im Brillengeschäft
Um den 30-jährigen Konzernlenker Marc Fielmann zu porträtieren, hat Redakteur Marc Widmann ihn fünfmal getroffen: im April bei einer zweitägigen Reise nach Italien und der Bilanz-Pressekonferenz in Hamburg. Im Juli bei seinem wöchentlichen Digitalisierungs-Rundgang in der Zentrale und der Hauptversammlung in einer Hamburger Sporthalle. Und im September zu einem langen Interview. Dazu sprach Widmann mit Konkurrenten, Gewerkschaftern, Verbandsvertretern, einem Betriebsrat, einem Aufsichtsrat und einem Vorstandskollegen von Fielmann. Was den Redakteur beeindruckte: Marc Fielmann bekam seine wörtlichen Zitate zur Autorisierung geschickt, änderte aber so gut wie nichts. Und bei einer Filialeröffnung in Reggio Emilia beriet er Widmann eine Stunde lang beim Brillenkauf. Fielmanns wichtigste Frage: »Wie wollen Sie wirken?«
Er kommt recht spät zum Gate am Hamburger Flughafen, die anderen Fluggäste haben sich schon aufgestellt, dann ist auch Marc Fielmann da. Eleganter gekleidet als die meisten, trotzdem dreht sich keiner zu ihm um, vielleicht sieht er einfach zu jung aus, um als Prominenter aufzufallen, als Sohn einer der bekanntesten Unternehmerfamilien der Republik. Die Begrüßung ist ausgesprochen freundlich, schon damit überrascht er seine Gesprächspartner, weil viele ein anderes Bild im Kopf haben, wie ein Milliardärssohn wohl sein wird, irgendwie entrückter. Marc Fielmann aber zieht gleich in der Warteschlange ein Schildchen aus Metall aus der Tasche, auf dem sein Name steht. Das habe er immer dabei und stecke es an, wenn er in eine Niederlassung kommt und Kunden beim Brillenkauf berät, sagt er. Viele brauchten eine Weile, bis sie es entdecken, am Schluss fragen sie dann vorsichtig: Sind Sie wirklich der Fielmann? Zwei Meter weiter in der Schlange ist er schon bei einer größeren Frage: Warum kaufen Italiener anders als Deutsche fast keine Brillen mit Metallfassung? Vermutlich weil sie mehr Wert auf Design legen und Kunststoffbrillen sich spannender designen lassen. »Wir haben eine Marktforschung gemacht«, sagt Marc Fielmann, »dabei kam heraus, dass die Menschen in keinem europäischen Land so wenig an Mode interessiert sind wie in Deutschland.«
Er wird seine Krawatte in den nächsten Tagen nur abends ablegen. Die Reise führt nach Italien, dort hat Marc Fielmann nach seinem Studium ein Jahr lang gearbeitet bei den Brillenherstellern Safilo und Luxottica. Jetzt will er dieses Land erobern für den Konzern, den sein Vater 1972 aus dem Nichts aufgebaut und zum klaren Marktführer in Deutschland gemacht hat. Hierzulande verkauft Fielmann 53 Prozent aller Brillen, 6,8 Millionen im vergangenen Jahr. In Italien waren es bis vor Kurzem noch null. Aber Marc Fielmann hat einen Plan, seine »Vision 2025«. Bis dahin will er fünf neue Märkte in Europa erschließen, »Marktführer in Kontinentaleuropa sein«, jede vierte Brille verkaufen, allein in Italien sollen 80 Filialen entstehen. Und nebenbei will er allen beweisen, dass er nicht nur der Sohn von Günther Fielmann ist, sondern auch der würdige Nachfolger.
Für viele Hamburger Familienunternehmer ist es derzeit die größte Sorge, einen geeigneten Nachfolger zu finden, der ihr Lebenswerk nicht einreißt, sondern fortführt (siehe Seite 4). Oft können die Alten nicht loslassen, oft wollen sich die Jungen um jeden Preis profilieren. Im schlimmsten Fall entwickelt sich ein Familiendrama wie bei den Darbovens, wo der Vater einen fremden Manager adoptieren wollte und sein eigener Sohn dagegen vor Gericht zog. Wie läuft es bei Fielmann, der bekanntesten Hamburger Familienfirma, die 90 Prozent der Deutschen kennen?
Bachelorabschluss mit 21 Jahren, Marketingvorstand mit 26, Co-Vorstandsvorsitzender mit 28. Wohl in keinem Konzern verlief der Aufstieg eines Nachfolgers so rasant wie bei Marc Fielmann
Mein Vater hat das mal »relativ hart am Wind segeln« genannt. Es war schon eine steile Kurve, die wir genommen haben, hart am Limit.
Vergangenes Jahr im April holte Günther Fielmann, der 80-jährige Firmengründer, seinen Sohn als gleichberechtigten Vorstandschef an seine Seite. Seither bekommt der Senior nur noch ein symbolisches Gehalt von einem Euro. Im kommenden Juni läuft sein Vertrag aus. Dann ist Marc Fielmann der alleinige Chef des MDax-Konzerns mit derzeit rund 20.500 Mitarbeitern in 770 Niederlassungen; mit einem Umsatz von 1,65 Milliarden Euro, den er auf 2,3 Milliarden steigern will.
Am nächsten Morgen in Italien, es ist Anfang April, dichter Nebel drückt auf das Cadore-Tal in den Dolomiten, ganz im Nordosten des Landes. Marc Fielmann hat sich beim Frühstück im Hotel über die kleinen italienischen Süßigkeiten gefreut, genauso wie beim Abendessen in einer Berghütte über die handgemachten Nudeln für ein paar Euro. Er erwähnte ein italienisches Restaurant in Hamburg, wo es die auch gebe, aber so teuer, dass man dort nur einmal im Monat hingehen könne. Interessante Aussage für einen Mann mit einem Jahresgehalt von 2,45 Millionen Euro.
"Meine Eltern haben immer gesagt: Man muss sich Dinge verdienen. Ich habe mir auch mein Taschengeld erarbeiten müssen, mein erstes habe ich ganz früh im Garten verdient. Später habe ich angefangen, Webseiten zu designen und zu programmieren mit einem Bekannten, dann wurde es ein bisschen mehr. Bei Fielmann habe ich zum Start nur ein Trainee-Gehalt bekommen. In der freien Wirtschaft wäre es mehr gewesen. Aber ich habe die langfristige Perspektive gesehen (lacht).”
In der Brillenfabrik De Lotto wird Marc Fielmann vom Inhaber Luciano de Lotto umarmt. Er erzählt fröhlich von Günther Fielmann, der schon vor 40 Jahren von Hamburg aus über die Alpen hierher fuhr, in seinem Ferrari. Das machte ihn im Tal zu einer Berühmtheit. Sein Sohn Marc saß später auf dem Beifahrersitz. Im Cadore-Tal waren die Brillenfassungen 50 Prozent billiger als in Deutschland. »Mein Vater hat den ganzen Kofferraum vollgepackt, da passt einiges rein«, sagt Marc Fielmann.
Deshalb waren die Brillen bei seinem Vater so billig: Weil er sie direkt von den Fabriken kaufte, in gewaltigen Mengen. Weil er die Zwischenhändler ausschaltete und die Modelle auch selbst designen ließ. So lag sein Verkaufspreis sogar unter dem Einkaufspreis der klassischen Optiker. In de Lottos Fabrik läuft Marc Fielmann von Station zu Station. Schaut, wie die Fassungen aus Acetat-Kunstoffplatten gefräst, dann stundenlang in drehenden Holztrommeln mit Schleifkugeln poliert werden, bis schließlich Arbeiterinnen die Bügel montieren und den Markennamen aufdrucken, von Hand. In weißen Kisten lagern Modelle von Gucci und Prada. Und von Fielmann.
Marc Fielmann bleibt vor einer Kiste mit dem Damenmodell MF 031 stehen, klassisch-runde Form, leicht und transparent. »Die gibt es auch in Pink«, sagt er, »so eine Brille habe ich gerade in einer Niederlassung in Hamburg meiner Verlobten gemacht.« Er selbst, minus zwei Dioptrin, trägt fünf Brillen und, nachdem ihm die Vorgängerbrille in die Alster gefallen ist, am häufigsten das Herrenmodell der MF 031. Entworfen von Chefdesigner Marco Collavo, der ihn beim Kennenlernen erst einmal schockierte.
“In meinem Praktikum bei Safilo kam ich zu Marco Collavo, und er hat mir gesagt: Finde mal heraus, was die aktuellen Trends sind. Ich habe gemacht, was ein Deutscher macht, der gerade von der Uni kommt: Ich habe durchs Internet geschaut und angefangen zu zählen: welche Brillen, welche Farben, welche Formen. Am Ende hatte ich eine Excel-Tabelle. Die habe ich ausgedruckt. Marco Collavo hat sie nicht einmal angeschaut, sondern gleich weggeworfen und gesagt: Jetzt gehen wir mal durch die Stadt und schauen selbst. Ich sagte: Was? Meine ganze Arbeit! Er sagte: Macht nichts.”
Man könne den Italienern nicht einfach das deutsche Denken aufpressen, sagt Collavo, nicht einmal den deutschen Ladenbau. Weil die Italiener allem, was billig sei, erst einmal misstrauten. Als Collavo sich mit einem neuen Chef überwarf und kündigte, flog Marc Fielmann sofort nach Venedig und bot ihm einen Vertrag an. Zwei Tage später rief auch der Generaldirektor von Dior an und wollte Collavo einstellen. Aber Fielmann war schneller gewesen.
Die Eroberung Italiens bleibt dennoch ein gewaltiges Risiko: 80 Filialen mit langfristigen Mietverträgen, mit Parkett statt Teppichböden und weniger vollgestopften Regalen, das bedeutet enorme Investitionen. »Das kostet Geld, Kraft, Zeit, Empathie und Aufmerksamkeit des Managements, die anderswo fehlt«, sagt der Manager eines Konkurrenzunternehmens. »Am Ende ist die internationale Expansion eine Feuerprobe für Marc Fielmann. Wenn das schiefgeht, tut es weh.« Sein Vater scheute immer vor der Expansion in fremde Länder zurück, ein Versuch in Polen blieb früh bei 20 Filialen stecken. Seinem Sohn sagte er: Wenn das in Italien nicht laufe, müsse er hinfahren und sich persönlich darum kümmern. Dabei macht der Sohn in Italien gerade nichts anderes als das, was sein Vater in den Siebzigerjahren in Deutschland gemacht hat. Er fährt in die heile Welt der kleinen Optikerläden hinein »wie der Habicht in den Hühnerstall«. So schilderte Günther Fielmann einmal seinen Aufstieg. In Italien tragen Optiker heute noch Kittel wie damals in Deutschland. Sie stehen an einer Theke, und wer zu ihnen kommt, wird auf Aussehen und Einkommen taxiert, dann zieht der Optiker eine Schublade heraus und bietet eine Brille an, ein bisschen wie in einer Apotheke. Die Auswahl ist klein, die schönen Brillen sind teuer, Reparaturen müssen bezahlt werden. Und plötzlich taucht der Habicht auf.
»Wir sind von Anfang an Marktführer in jeder Stadt, wo wir eröffnen«, sagt Marc Fielmann, »erste Niederlassungen sind bereits profitabel.« Er freut sich leise darüber, aber einen Satz, in dem er selbst als Raubvogel vorkommt, würde er nie sagen, auch nicht in vertraulicher Runde. Er warf auch noch nie einen Stuhl durchs Büro wie sein Vater. Günther Fielmann riskierte lange mit jeder neuen Idee den Bankrott seiner Firma. Er wurde von Konkurrenten mit Lieferboykotts bekämpft und mit dem Tod bedroht. Er war die meiste Zeit seines Lebens im Selbstbehauptungsmodus. Sein Vater arbeitete als Oberstudiendirektor in Hamburg, habe alles besser gewusst und ihn so autoritär erzogen, dass er sich dressiert fühlte. »Papa« zu sagen war verboten. Ein Fahrrad oder Schlittschuhe bekam er aus moralischen Gründen nicht, weil andere Kinder auch keine hatten.
Auch deswegen kaufte sich Günther Fielmann später mehrere Ferraris. Und er nahm sich vor, seinen Sohn nicht zu dressieren. Der Firmengründer wollte lange gar keine Kinder, erst mit 48 Jahren heiratete er die 19-jährige Germanistik-Studentin Heike Eggert, die sich als Brillenmodell in seiner Firma etwas dazuverdienen wollte. Im Jahr darauf kam Marc auf die Welt, fünf Jahre später Sophie, die gerade in London forscht und ihre Promotion in Neuropsychologie vorbereitet. Vater und Bruder würden sich freuen, wenn auch sie in die Firma einsteigt. Zusammen hält die Familie 71,64 Prozent der Aktien. Sie verstehen sich gut, obwohl sich die Eltern nach zwölf Jahren trennten. Sein Vater nahm Marc Fielmann schon als Zweijährigen mit zu Geschäftsterminen. Und verkündete seinen Mitarbeitern: »Der wird eines Tages euer Chef sein.«
“Mein Vater war selten zu Hause, und wenn, dann hat er meistens Manager oder Lieferanten mitgebracht. Die kennen mich schon als kleinen Jungen. Weil er so selten zu Hause war, sind wir oft in die Firma gefahren und haben ihn dort getroffen. Er hat mal gesagt, dass er mir immer kleine Aufgaben gegeben hat, und wenn ich sie gut gemacht habe, hat er mir größere Aufgaben gegeben. Das ist die Eigenschaft von einem sehr lebenserfahrenen Vater. Je älter ich wurde, umso mehr hat er mich ausprobieren lassen und nur eingegriffen, wenn es nötig war. Er hat mich mit fünf Jahren auf einen Carrier gesetzt, ein Kettenfahrzeug, mit dem man im Garten schwere Sachen von A nach B bewegt. Mein Großvater hat immer Videos von uns gedreht. Und als mein Vater sie angeschaut hat, hat er dabei oft gesagt: Oh, das war vielleicht ein bisschen früh (lacht). Mein Vater hat immer sehr lange Leine gelassen. Nachdem ich von der Uni kam, hätte ich mir ein bisschen mehr Anleitung gewünscht. Aber ins kalte Wasser geworfen zu werden macht sehr selbstständig.”
Dass Vater und Sohn 50 Jahre trennen, hat für beide Vorteile: Für den Älteren ist klar, dass er die Verantwortung wirklich abgeben muss, weil er aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr so viel arbeiten kann wie früher. Und für den Jüngeren ist klar, was zu tun ist. Denn Einiges war liegen geblieben bei Fielmann: Die internationale Expansion. Die Modernisierung der Kollektion. Und vor allem die Digitalisierung. Doch bevor Marc Fielmann sich den großen Fragen zuwenden durfte, ließ sein Vater ihn erst einmal das Optiker-Handwerk lernen. Nach dem Bachelorabschluss mit Schwerpunkt Volkswirtschaft und Finanzen an der London School of Economics und einigen Praktika schickte er ihn eineinhalb Jahre lang als Verkäufer in 50 Niederlassungen in ganz Deutschland. Mehr als 1000 Brillen hat Marc Fielmann verkauft.
“Am Anfang war es schwer. Wenn ich in eine Niederlassung gegangen bin, habe ich gedacht: Oh, jetzt muss ich perfektes augenoptisches Fachwissen haben, muss den Kunden super beraten und alles erfüllen, weil mich alle anschauen, als wäre ich schon Vorbild. Das hat natürlich zu einem großen Druck und zu einer großen Nervosität geführt. Aber ich habe den Mitarbeitern gleich beim ersten Treffen gesagt: Sie sehen ein bisschen nervös aus – ich kann Ihnen versichern, ich bin noch viel nervöser. Und dann habe ich den Meister gebeten: Bitte korrigieren Sie mich mal vor anderen, damit alle sehen, dass Feedback gut und richtig ist. Nur so kann ich lernen. Sonst erzähle ich den Kunden womöglich was Falsches, und keiner greift ein.”
Samstags fuhr Marc Fielmann zu seinem Vater auf dessen Biobauernhof in Lütjensee und stellte ihm Fragen, auch die der Mitarbeiter in den Filialen. Vieles konnte sein Vater erklären, manches war auch für ihn neu. Dann wurde ein Manager einbestellt und Verbesserung angemahnt. »Er hat mir von Anfang an das Gefühl gegeben, dass wir Dinge verändern können«, sagt Marc Fielmann. »Das ist schön.« Und als er seinem Vater immer wieder mit digitalen Projekten »auf die Nerven ging«, habe der eines Tages gesagt: Dann gründe halt deine Firma. Aber schau, dass du nicht alles durcheinanderbringst.
Ein Freitag im Juli, Marc Fielmann steht im Treppenhaus der Konzernzentrale in Barmbek-Süd und sagt: »Hier ist die Keimzelle, hier habe ich vor sieben Jahren angefangen.« Hinter der Tür im 4. Stock sitzen ein paar locker gekleidete junge Menschen vor Computern. Fielmann Ventures heißt die Firma, sein Projekt, das den Konzern aufwecken sollte. Damals gab es viel Häme über Fielmann, die Firma sei ähnlich digital aufgestellt wie das Museum für Völkerkunde. »Wir hatten ganz viel aufzuräumen«, sagt Marc Fielmann.
Jede Woche macht er jetzt an einem Vormittag seinen »Jour Fixe Digitalisierung«, besucht einige der vielen neuen Projekte in der Firmenzentrale, bei denen Außenstehende kaum den Überblick behalten können. Das Ziel ist nichts Kleineres, als die Branche zu »revolutionieren«
Kürzlich hat ihm ein Berliner Start-up einen Brief geschickt, handgeschrieben. Man habe eine Wartezeiten-Management-App entwickelt, damit die Kunden nicht mehr in der Filiale warten müssen, sondern spazieren gehen oder einkaufen können. Wenn ein Verkäufer frei ist, werden sie per Handy informiert. »Juhu, ein Fielmann ist glücklich!«, sagt Marc Fielmann und lacht. Er hat die Idee gleich umgesetzt und lässt sie in drei Hamburger Filialen testen. Denn jedes Jahr verliere der Konzern 700.000 Kunden, die genervt aus der Filiale laufen, weil ihnen die Wartezeit zu lang ist.
Das größte Risiko, sagt Marc Fielmann, drohe von branchenfremden Firmen wie Amazon. Dort bestellten viele Kunden ihre Kontaktlinsen. Fielmann ließ seine Entwickler eine App programmieren, mit der neue Linsen in zehn Sekunden nachbestellt werden können, mit drei Klicks. Omnichannel nennt er das, der Kunde kann jederzeit zwischen Filiale und Onlineshop hin und her springen, wie er mag. Seither erobert Fielmann Marktanteile von Amazon zurück. Das Problem ist nur: Der Brillenverkauf im Netz ist deutlich komplizierter.
Dafür haben sie das Projekt Geislingen gestartet. Kleine Filialen wie in Geislingen, einer Stadt mit 28.000 Einwohnern in Baden-Württemberg, haben nur wenige Hundert Sonnenbrillen vorrätig. Jetzt gibt es dort Tablet-Computer, die wie ein digitaler Spiegel funktionieren: Die Kamera filmt den Kunden, und auf dem Bildschirm hat er dann eine Brille aus der Datenbank auf. Er kann seinen Kopf drehen, die Brille von allen Seiten anschauen und sich mit einem Wisch über den Bildschirm die nächste von 10.000 Brillen aufsetzen. Die Software zeigt an, wie gut Brille und Gesicht zusammenpassen, und macht Vorschläge. Das funktioniert schon ganz gut. Bei Sonnenbrillen.
Bei der klassischen Korrektionsbrille, wie sie 41 Millionen Deutsche tragen, steckt Fielmann Ventures gerade noch mitten in der Forschung. Sie muss bislang persönlich ausgemessen und angepasst werden, sonst bekommt der Träger Kopfschmerzen. »Das ist Millimeterarbeit«, sagt Marc Fielmann. Seine Entwickler haben sich eine Brillenanpassung per Tablet patentieren lassen, auch dazu muss der Kunde nur in die Kamera schauen. In allen deutschen Niederlassungen wird das seit Kurzem eingesetzt, um das System zu trainieren. »Warten Sie mal das neue Jahr ab, dann gibt es neue Technologien, da werden einige Mitbewerber staunen«, sagt Marc Fielmann. »Wir sind aus einer wahrgenommenen Verteidigungshaltung in eine Gestaltungshaltung gekommen.« Inzwischen lästert niemand in der Branche mehr.
In der Mönckebergstraße soll im Frühjahr das erste modernisierte Supercenter eröffnen: Mit digitalem Schaufenster, digitaler Brillenanprobe, einer großen Kaffeebar mit eingelassenen Tablet-Bildschirmen – und mit winzigen Funkchips an jeder Fassung. Damit können die Verkäufer die Brillen orten. Und wenn ein Kunde ein Modell aus dem Regal nimmt, soll ein Bildschirm gleich zusätzliche Informationen dazu anzeigen.
Marc Fielmanns Vision kostet eine Menge Geld. 200 Millionen Euro allein in diesem und im nächsten Jahr für die Modernisierung der Filialen, die Digitalisierung und die Expansion im Ausland. Mitte 2018, da war Marc Fielmann gerade Vorstandschef geworden, begann der Aktienkurs rasant zu sinken. Doch als er unten stand, kauften Manager und Fielmanns Mutter nach, weil sie an seine Strategie glaubten. Inzwischen hat sich der Kurs erholt. Geld für Investitionen ist reichlich da, die Firma verdient gut – und sie hat mehr als 300 Millionen Euro angespart. Vielleicht sehen deshalb die grauen Teppiche in der nüchtern eingerichteten Konzernzentrale hier und da ein bisschen abgelaufen aus.
Wer sich umhört im Fielmann-Reich, findet kaum Unzufriedene. Nur in der Fabrik in Rathenow, wo der Konzern Gläser fertigt, zuschleift und millionenfach im Jahr mit Fassungen zu Brillen zusammensetzen lässt, gibt es Klagen. »Der Großteil der Beschäftigten arbeitet knapp über dem Mindestlohn«, sagt Nico Faupel von der IG Metall. »Auch die Arbeitsbedingungen lassen sehr zu wünschen übrig, oft wird Mehrarbeit angeordnet, die man aber nur dann wieder abbauen kann, wenn der Arbeitgeber es will.« Die Arbeiter trauten sich nicht zu protestieren, weil sie Repressalien fürchteten.
Marc Fielmann sagt dazu, dass man die Löhne in der Fabrik in den letzten drei Jahren um 13 Prozent erhöht habe, das durchschnittliche Gehalt liege bei gut 2100 Euro und damit deutlich über dem Mindestlohn. Die Arbeitszeit bleibe auch in Spitzenzeiten unter den erlaubten Grenzen. Außerdem investiere man gerade 15 Millionen Euro in Rathenow, um die fast 1000 Arbeitsplätze in der strukturschwachen Region zu sichern. Und dann kommt ein typischer Marc-Fielmann-Satz: »Aber man kann immer besser werden.«
Kürzlich hat Fielmann einen schwäbischen Optiker abgemahnt, weil der eine zeitlich begrenzte Rabattaktion verbotenerweise über das Aktionsende hinaus fortgeführt habe. Solche juristischen Scharmützel gab es früher ständig. Heute sind sie selten geworden.
Sein Vater saß auf Branchentreffen oft allein, weil sich keiner zu ihm setzen wollte, dem Habicht. Marc Fielmann bekam vor einiger Zeit Besuch von Thomas Truckenbrod aus Leipzig, dem Inhaber eines klassischen Optikergeschäfts und Präsident des Zentralverbands der Branche. »Hut ab«, sagt er heute, »das ist ein sehr bescheiden und höflich auftretender junger Mann, der weiß, was er will, und der auch bereit war zuzuhören.«
So weich, fast demütig Marc Fielmann öffentlich auftritt, so hart ist er sich selbst gegenüber. 16 Stunden am Tag eilt er bisweilen durch seine Termine, und wenn er in Verzug gerät, spricht er schneller und läuft noch schneller durch die Flure. So schnell, dass seine Mitarbeiter ins Schnaufen kommen. Wenn ihn ein Buch beeindruckt, lässt er es gleich zu einem Vorstandskollegen nach Hause liefern. Er gräbt sich tief ein in seine Arbeit, vermutlich auch deshalb, weil er oft mit seinem Vater und dessen in Jahrzehnten gesammeltem Wissen verglichen wird. Er will rasch aufholen.
Seine Schwächen? Die, von denen seine Kollegen erzählen, wirken eher lustig: Wenn er kein Mittagessen bekommt, verliert er irgendwann die Konzentration und Lust. Deshalb hat seine Frau immer einen Schokoriegel für ihn dabei. »Er ist ein wahnsinniges Arbeitstier«, sagt HansGeorg Frey, Aufsichtsrat von Fielmann und bis vor Kurzem Chef des Hamburger Gabelstapler-Herstellers Jungheinrich. »Da muss er aufpassen, dass er sich nicht überlastet. Der junge Mann hat noch Zeit, er hat noch ein ganzes Unternehmerleben vor sich.« Ansonsten schwärmt er lange von dem »begnadeten Unternehmer«.
Hat Marc Fielmann auch mal aufbegehrt, ist er auch mal ausgebrochen, als Teenager vielleicht?
“Bei mir war das nie eine aggressive Rebellion, aber ich wollte mal raus. Ich bin ins Internat nach Salem gegangen, weil ich eine Herausforderung gesucht habe. Meine Eltern hatten sich gerade getrennt, da war es der richtige Zeitpunkt, mal wegzugehen, was ganz anderes zu sehen. Dann auch zum Studium nach London und zum Arbeiten nach Italien und in die USA. Aber ich kam immer wieder darauf zurück, dass Optiker zu sein schon ein ganz anständiger Beruf ist. Und dass man aus der Firma noch viel machen kann.”
Seitdem er seine Vision verkündet hat, den Plan, fünf neue europäische Märkte zu erobern, kann er sich »vor Anfragen nicht retten«. Im September hat Fielmann die führende slowenische Kette übernommen. Gerade verhandelt er gleichzeitig mit Optikern aus verschiedenen Ländern, die sich vorstellen können, ihre Firmen zu verkaufen. »Ob wir zusammenkommen, ist eine sehr subjektive Frage«, sagt Marc Fielmann. »Es sind Familienunternehmen, und da geht es immer um das Lebenswerk.«
Genau wie bei ihm.
Quelle: Die Zeit, Text: Marc Widmann, Foto: © Paula Markert